Wo der Mensch dem Wolf ein Mensch ist
Was unterscheidet Wolf und Hund heute voneinander?
Was verbindet sie? Und wie ist ihr Verhältnis zum Menschen? Forscherinnen und Forscher am Wolf Science Center (WSC) in Ernstbrunn gehen diesen Fragen im Detail nach. Einer von ihnen: der bekannte Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal, Professor an der Universität Wien.
„Die Wölfe hören auf ihre Namen und tun im Wesentlichen das, worum man sie bittet. Wenn es sie freut. Aber das ist zum Glück meistens der Fall“
„Der Grund, warum Wölfe wieder zurück in unsere Breiten kommen, ist die extrem hohe Dichte an Rehen, Hirschen und anderem Wild“
Rund 40.000 Jahre ist es her, dass der Mensch auf den Wolf – und damit auf den Hund kam. Zu Beginn dieser prägenden Beziehung standen spirituelle Motive, vermutet Kurt Kotrschal. Es dürften Schamanen gewesen sein, die den Austausch mit Wölfen wagten und einige von ihnen zähmen konnten. Fortan machten Mensch und Wolf bei der Jagd nach lebensnotwendigem Fett und Protein gemeinsame Sache. Aus den Wildtieren, die sich den Menschenrudeln dauerhaft anschlossen, entwickelten sich im Lauf der Jahrtausende die Hunde.
Was unterscheidet Wolf und Hund heute voneinander? Eine von vielen Fragen, denen das Wolf Science Center (WSC) nachgeht. Die unter der Leitung der Verhaltensbiologen Kurt Kotrschal, Friederike Range und Zsófia Virányi 2008 in Grünau im Almtal gegründete und seit 2009 im niederösterreichischen Weinviertel beheimatete Forschungsinstitution untersucht Intelligenz und Sozialverhalten von Wölfen und Hunden sowie deren Beziehung zum Menschen. Im Wildpark des Schlosses Ernstbrunn, unweit der Leiser Berge, tummeln sich auf einer Gehegefläche von 50.0000 m2 16 nordamerikanische Timberwölfe und ein 15-köpfiges Rudel ungarischer Mischlingshunde, allesamt aufgezogen und in respektvoller Neugier begleitet von den WissenschaftlerInnen und TrainerInnen des Wolf Science Centers.
Im weltweit einzigen Forschungszentrum seiner Art kümmern sich täglich mindestens zwei bis drei Trainer um das Wohlergehen der Wölfe und Hunde. Im karg eingerichteten – und daher ablenkungsarmen – Testraum stellen sie ihnen unterschiedliche Aufgaben, um ihren Kompetenzen auf die Schliche zu kommen. Wölfe lernen übrigens generell etwas besser und schneller als ihre domestizierten Artgenossen. Außerdem können sie Mengen abschätzen, Hunde hingegen nicht.
Grundlose Angst vor dem Wolf
„Die Wölfe hören auf ihre Namen und tun im Wesentlichen das, worum man sie bittet. Wenn es sie freut. Aber das ist zum Glück meistens der Fall“, sagt Kurt Kotrschal über seine vierbeinigen Forschungspartner. Der 1953 in Linz geborene Wissenschaftler studierte in Salzburg Biologie. Nach der Promotion und Habilitation forschte und lehrte er u. a. an der Universität Denver, Colorado. Heute ist er Professor am Department für Verhaltensbiologie der Universität Wien und leitet neben dem Wolf Science Center auch die verhaltensbiologische Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau im Almtal. Hormonale und kognitive Grundlagen sozialer Organisation sowie die Mensch-Tier-Beziehung sind seine zentralen Forschungsschwerpunkte. In jüngster Zeit engagiert sich Kotrschal als Sprecher der 2018 im Forum Wissenschaft & Umwelt gegründeten „Arbeitsgruppe Wildtiere“. Ihr Anliegen ist es, die emotionale Debatte über die Re-Migration von Wildtieren wie Luchs, Bär, Wolf und anderen zu versachlichen.
„Der Grund, warum Wölfe wieder zurück in unsere Breiten kommen, ist die extrem hohe Dichte an Rehen, Hirschen und anderem Wild“, erläutert Kotrschal. „Uns wurde ja schon vorgeworfen, wir hätten die Wölfe im Waldviertel ausgewildert. Was natürlich absurd ist und durch Gentests widerlegt werden kann. Im Wolf Science Center gibt es nur amerikanische, keine europäischen Wölfe. Dabei muss kein Kind, kein Schwammerlsucher Angst vor den Wölfen haben. In Österreich gibt es jährlich rund 3.500 Bissverletzungen durch Hunde zu beklagen, jedoch keine einzige durch einen Wolf“, argumentiert der Professor.
Freilebende Wölfe bräuchten im Prinzip nicht gejagt zu werden, da sie ihre Dichten selbst regulieren. „In Deutschland sterben die meisten Wölfe auf der Straße. Zweithäufigste Todesursache knapp dahinter: andere Rudel. In Österreich hingegen führen illegale Abschüsse die Liste der Wolfstode an“, so Kotrschal.
Mensch und Wolf: geteilte Leidenschaft
Womit wir sozusagen durch die Hintertüre der aktuellen „Wolfsdebatte“ bei einer der Kernfragen der Forscherinnen und Forscher am WSC angekommen wären: Warum fanden Mensch und Wolf zueinander und stießen die Entwicklung des Hundes an? Kotrschals Antwort kommt mit einem ironischen Grinsen: „Wahrscheinlich deshalb, weil Mensch und Hund sozial unheimlich gut zusammenpassen. Beide lebten in relativ geschlossenen Kleingruppen. Bei der Jagd, beim Aufziehen der Jungen und beim Töten der Nachbarn – da sind die Wölfe mit Leidenschaft dabei. Und die Menschen auch.“
Und worin besteht nun der Unterschied zwischen Wolf und Hund? Wer kann was – und warum? Der Hund ist die domestizierte – und sozial abgespeckte Ausgabe des Wolfs. „Wölfe gelten weithin als aggressiv und gefährlich, Hunde als nett und kooperativ. Aber so ist es nicht. Wenn hier ein Trainer oder ich gebissen werden würde, dann eher von einem Hund als von einem Wolf“, erklärt Prof. Kotrschal.
Hund und Wolf vorm Kühlschrank
„Der Hund kommuniziert im Vergleich zu seinen Vorfahren viel mehr, hat aber eine steile Dominanzhierarchie im Kopf und ist damit gegen seinesgleichen häufig aggressiv. Wölfe wiederum sind sozial kompetenter. Sie organisieren sich besser und sind sanfter innerhalb des Rudels. Ihre Lernbereitschaft ist größer als jene von Hunden. „Wir Menschen haben unser großes Gehirn und die Sprachfähigkeit als soziale Wesen entwickelt. Bei Wölfen verhält es sich ähnlich. Wölfe und Hunde haben zwar keine sehr großen Gehirne, aber neueste Forschungen zeigen, dass sie in ihrem Kortex eine wesentlich höhere Nervenzellendichte im Vergleich zu anderen Fleischfressern wie Bären oder Hyänen haben“, erläutert Kotrschal.
Und reicht ein plastisches Beispiel nach: „Sieht ein Wolf, wie der Kühlschrank aufgemacht wird, weiß er, wie der Kühlschrank aufgemacht wird. Ein Hund weiß, dass irgendetwas passiert – und am Ende gibt es vielleicht etwas zu essen. ‚Oh Mensch! Das war toll, mach‘s nochmal!‘ denkt er dann schwanzwedelnd. Der Wolf hingegen geht einfach zum Kühlschrank – und öffnet ihn.“
Wer Kurt Kotrschal, seinen Kolleginnen und Kollegen bei der täglichen Forschungs- und Trainingsarbeit mit Wölfen und Hunden über die Schulter schauen oder sie bei Spaziergängen mit den angeleinten Wildtieren begleiten möchte, besucht am besten den Wildpark Ernstbrunn und bucht das Besucherprogramm des WSC dazu. Besonderes Highlight: die Howl Night, eine einstündige Führung nach Einbruch der Dunkelheit für die ganze Familie – mit Lagerfeuer, Musik und Präsentation der heulenden Wölfe.
Fotos: BUERO.BAND/Magda Bauer
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